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Das Pilgern ist seit Paolo Coelho´s Jakobsweg-Roman, Shirley MacLaine´s Selbsterfahrungsbericht und spätestens seit Hape Kerkelings „Ich bin dann mal weg“ auch in der westlichen Welt wieder hoch im Kurs. Umfragen und Studien zeigen, dass es dabei i.d.R. weniger um sportive oder touristische Motivationen sondern für Viele v.a. um Selbsterforschung, Spiritualität und persönliche Entwicklung geht. Obendrein beginnen viele als „Touristen“ und enden als „Pilger“. Nicht ohne Grund gilt der Jakobsweg daher in neuerer Zeit auch als „längste Psychotherapie-Couch der Welt„. Das Aufbrechen (im doppelten Sinne), die Entbehrungen, die Schmerzen, mitunter Ängste, Entbehrungen und vor allem das Widerankommen stellt für viele Pilger der Neuzeit eine große Herausforderung dar und fungiert nicht selten als Initiator einer (psycho-spirituellen) Krise – eines Aufbrechens alter Persönlichkeitsstrukturen, Weltsichten und Paradigmen, die anschließend oftmals eine gute Begleitung und Integration – sei es durch im Pilgern Erfahrene, Geistliche oder Therapeuten – benötigen. Menschen die sich auch gezielt auf die damit verbundene Selbstkonfrontation und die damit verbundene Selbsttransformation einlassen begehen auch den „geheimen o. inneren Jakobsweg“, so sagt man in Spanien („El Camino Secreto“). Manch einer sieht hier gar einen Zusammenhang mit dem ursprünglichen Initiationsweg der esoterisch geprägten, geheimen Ritterorden, die entlang des Camino de Santiago ansässig gewesen sind und auf die heute noch zahlreiche Bauwerke, wie bspw. St. María de Eunate in Navarra, hinweisen – aber dies ist eine andere Geschichte.
Was soviel bedeutet, wie dass der eigentliche Weg nur im Inneren Individuum entstehen kann und der äußere geographische Weg nur als Mittel zum Zweck dient. Der berühmte konfuzianische Satz „Der Weg ist das Ziel“, fokussiert die Quintessenz des Pilgerns, gestern, wie heute.[6] Wenn „Selbstverwirklichung“ und „Selbsttranszendenz“ – im Sinne Maslows – ein zentrales Lebensziel darstellt, so ist man im eigenen Selbstverständnis „immer unterwegs“. Reisen wäre dann etwas, was der eigentlichen Bestimmung des Menschen entspricht.[7] Den damit verbundenen intrapsychischen und äußerlichen Konflikt – zwischen dem sicherheitssuchenden Sesshaften und dem Heimatlos-Ortlosen Wanderer/ Landstreicher – hatte bereits Hermann Hesse im 1904 „Camenzind“ anschaulich beschrieben.
Der Weg ist immer besser als die schönste Herberge.
Sie kann sich als religiöses Konzept sogar völlig von geographischen Konzepten lösen und in Meditation, oder kontemplativer Versenkung vollzogen werden. Allen verschiedenen Pilgerfahrten ist laut Haab und Sax jedoch eines gemein. Und zwar, dass sie alle eine meditative Ausrichtung auf etwas Transzendentes oder Göttliches haben. Dies stelle den eigentlichen Kern einer jeden Pilgerfahrt dar und ohne jene Ausformung verkomme die Pilgerfahrt zur bloßen auf Ablenkung, Zerstreuung oder Erholung ausgelegten Typologie des Tourismus. Hans Aebli, der bekannte Psychologe, lief Ende der achtziger Jahre mit seiner Frau von Le Puy nach Santiago. Er beschreibt den Zustand des Pilgerdaseins wie folgt: „Hierzu hat die Lebensform des Pilgerns wahrscheinlich etwas bewirkt, und dies gleichsam von außen nach innen (…) Versuchen den äußeren Weg auch innerlich zu gehen. Sich nicht in der Verfolgung aller möglicher Ziele verzetteln und sich von allen möglichen Motiven treiben lassen. Nur der einen augustinischen Sehnsucht folgen und jene Stadt suchen, in der unser unruhiges Herz seine Heimat findet (…)“ [8] Der spirituelle Wert unserer Handlungen als Pilger ergibt sich in Folge dessen aus der Absicht, die dahinter steckt.
„Eh ich die Reise beginne,
tut es Not, dass ich mich, auf mich selber besinne.
An die Mauer stoße, bis diese fällt
Und mich nicht mehr gefangen hält (…).“
Stand im Mittelalter meist noch das Ablasswesen, die Buße und der Sündenerlass im Vordergrund, so ist es bei den spirituell ausgerichteten Pilgern der Moderne häufiger der meditativ-kontemplative und mystische Aspekt, welchem die mehr oder minder entbehrungsreiche Zeit gewidmet ist. Viele wählen bewusst Alternativrouten und Pfade der Stille um sich dann anschließend am Abend wieder, dem oftmals wilden und lauten Treiben der Herberge – oder um es im Zen-Bildnis zu sagen: „dem Marktplatz“ – zu stellen, was ein mir wichtiger Aspekt zu sein scheint. Denn manch einer kommt am Ende auf die beuyssche Erkenntnis, dass das Mysterium eben doch am Hauptbahnhof stattfindet.
Ein spanisches Sprichwort besagt: „Nach Jerusalem wandert man, um Jesus zu finden, nach Rom geht man zum Papst, doch auf dem Pfad nach Santiago de Compostela sucht man sich selbst.“ Schon bei einer der wichtigsten Pilger- bzw. Kultstätten der Antike, dem Orakel am Apollontempel von Delphi, stand die (sokratische) Formel „Erkenne dich selbst“. Und auch Jesus hat mehr vom achtsamen Erkennen und Begreifen gesprochen und nicht das Nichtbefolgen von Gesetzen verurteilt. Er wusste anscheinend, dass nur die Unwissenheit des Menschen um sein wahres (mystisches) Wesen, welches zur Unfähigkeit zur Liebe führt, als „Sünde“ bezeichnet werden kann. Denn dies bezieht im Grunde alle weiteren „Gebote“ (nicht Stehlen/ Töten etc.) automatisch mit ein. In gleiche Richtung argumentiert auch der Psychologe John Selby. Er nennt die Selbsterkenntnis eine erstaunliche Heilkunst, die in sich die Elemente der Liebe und Anerkennung verbirgt. Er sagt, dass er in seiner Praxis noch niemanden getroffen habe, dessen Selbstwertgefühl auf dem Weg der Selbsterfahrung gesunken wäre.[9] Wer jedoch schon zu Beginn sagt, „Er kenne sich selbst“, hat bereits aufgehört, sich kennen zu lernen und hält sich vielleicht nur für ein Bündel von Eigenschaften, Erinnerungen, Erfahrungen und Traditionen.
Ein spiritueller Weg, der nicht zurück in den Alltag führt ist ein Irrweg.
Dies bedeutet, dass es am Ende bzw. nach den tiefen Erfahrungen einer Pilgerschaft darum geht, sich selbst mit den gemachten Erfahrungen und den damit verbundenen Öffnungen insofern „ernst zu nehmen“, dass diese – jenseits von Hochmut und Egozentrik – eine entsprechende (rituelle) Würdigung bedürfen und in das alltägliche „Ich-Bewusstsein“, welches nicht mehr das gleiche wie vorher sein kann, integriert werden wollen. Der damit verbundene Tiefenprozess und die Umgangsweise mit einer daraus resultierenden, möglicherweise bis dato unbekannten, Feinsinnigkeit kann Wochen, Monate, ja mitunter auch Jahre dauern. Meiner Erfahrung – mit den eigenen diesbezüglichen Prozessen – sowie denen zahlreicher Klienten ist die, dass dabei v.a. die Transpersonale Psychologie eine gute Hilfe und Integrationsarbeit leisten kann, da sie explizit die spirituelle Dimension des Seins mit einbezieht und ferner ein weitreichendes Verständnis für die auf einer Pilgerreise möglichen Transformationsprozesse, mystischen Gipfelerfahrungen und „Dunklen Nächte“ (der Seele) – um es abschließend mit dem spanischen Mystiker Johannes vom Kreuz zu sagen – besitzt. Daher laden wir die LeserInnen herzlich ein, sich auch mit unserer transpersonalen Ausbildung zu beschäftigen.
In diesem Sinne wünsche ich allen, die auf dem ewigen Pilgerweg des Lebens sind, eine gute Reise und „Ankunft“.
Buen Camino!
Leiter freiraum-Institut/ Therapeut/ Supervisor
10 Jahre Pilgererfahrung in unterschiedlichen Ländern/ Kontinenten
Quellen/ Anmerkungen:
[1] Anm.: Alle religiösen Rituale – von der Versenkung im Gebet und Meditation über den Gottesdienst bis hin zu den Extremformen ekstatischer, beispielsweise schamanischer Praktiken – setzen den vorübergehenden Bruch mit dem Alltag als Voraussetzung für die Erfahrung der Transzendenz voraus.
[2] Vgl., Henning, Christoph, 2001, Der Wunsch nach Verwandlung – Mythen des Tourismus, Evangelische Akademie, S.9-10
[3] Anm.: Schamanische Reisen, Exodus, Dantes Göttliche Komödie, Suche nach dem gelobten Land/ irdischen Paradies
[4] Anm.: Noch heute wird die Gesamtzahl der Pilger allein in Europa jährlich auf rund 300 Millionen Menschen geschätzt; nach Lourdes fahren mehr Reisende als nach ganz Tunesien; allerdings gilt es ggf. in Motivation/ Vollzug/ Ausrichtung zwischen den Gruppenwallfahrten mit entsprechenden Heilserwartungen „von oben“ von den Einzel-Pilgerwanderungen zu differenzieren.
[5] Legler, Rolf, 1999, Sternenstrasse und Pilgerweg – Der Jakobs-Kult von Santiago de Compostela Wahrheit und Fälschung, Verlagsgruppe Lübbe GmbH Bergisch Gladbach, S.27
[6] Anm.: 1997 gestand Reinhold Messner, dass er beim allein unterwegs sein in der Arktis oder im Himalaya in einen Dialog mit der Schöpfung trete, bzw. dass er im Gehen bete. Diese physische und psychische Allerfahrung durch das Medium des Gehens ist uns abhanden gekommen (Vgl., Legler, Rolf, 1999, S.76).
[7] Vgl., Henning, ebd., S.59
[8] Aebli, Hans, 1990, Santiago, Santiago… – Auf dem Jakobsweg zu Fuß durch Frankreich und Spanien, Klett-Cotta Stuttgart, S.245.
[9] Vgl., Selby, John, 2001, Die Kunst, allein zu sein, dtv Verlag, S.13
[10] Krishnamurti, Jiddu, 2001, Einbruch in die Freiheit, Econ München, S.25
[11] Vgl., Henning, ebd., S.42
[12] Vgl., Frey, Nancy Louise, 2002, Santiagopilgern unterwegs und danach, Verlag Manfred Zentgraf,S.244-254
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Herzlichen Dank für diesen literarischen "Schatz" !! Ich habe ihn jetzt schon mehrfach gelesen und halte immer wieder inne und lausche Worten nach, die mit meinem 'eigenem' Inneren resonnieren gleich Orten, die geweckt werden.....danke für diese Würdigung ans Leben, ein Er- inne-rt WERDEN, das 'ich' jeden Tag auf dem Weg bin .... und so tröstlich und inspirierend, wie viele Menschen in der Zeit schon und immer auch auf dem Weg sind.....Danke .....
Danke - liebe Sabine, für die Rückmeldung... v.a. auch die telefonische Rückmeldung! ;-)