Und gib uns unser täglich “Trauma”…

Noch während meines Studiums und meiner ersten therapeutischen Aus- und Weiterbildungen Anfang der 2000er-Jahre war der Trauma-Begriff und die damit verbundene Problematik, trotz der Erkenntnisse Dr. Peter A. Levine´s (“Somatic Experiencing”), Prof. Bessel van der Kolks, Prof. Stephen W. Porges (SSP & Polyvagaltheorie), Dr. Pat Ogdens, Dr. David Berceli´s (TRE), Dr. Darrell Sanchez (Tuning Board), Dr. Sonia Gomes´ (SOMA-Embodiment), Dr. Laurence Heller´s (NARM), Prof. Luise Reddemann´s (PITT) und anderen, an den geisteswissenschaftlichen, (deutschen) Hochschulen jener Zeit maximal ein Randthema – wenn überhaupt, dann wurde psychisches “Trauma” v.a. in Verbindung gebracht mit Schocktraumata und klassischen Themen, wie Krieg, Unfällen, Naturkatastrophen und Überfälle/ Vergewaltigungen etc. Doch in den letzten 15 Jahren ist nicht nur im Bereich der Therapie und den damit verbundenen therapeutischen Ansätzen und Möglichkeiten viel passiert, sondern auch gesamtgesellschaftlich ist das Verständnis dafür gewachsen, dass in der modernen Welt kaum jemand ohne direkte oder indirekte Trauma-Erfahrungen durchs Leben kommt. Auch durch die zahlreichen Vorkommnisse der letzten Jahre im öffentlichen Raum sowie der medialen Omnipotenz potenzieller traumatischer Bilder und Themen (“Trauma-Trigger”) ist die Thematik zunehmend mehr ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Ferner haben hier und da, auch die älteren Generationen, noch begonnen über ihr eigenes Leid im Rahmen der eigenen Vertreibungen zu sprechen, so dass den Nachfahren erstmals die Möglichkeit gegeben worden ist, ein Stück weit zu verstehen, warum Vieles so war, wie es war und v.a. auch eine Bestätigung dafür bekommen konnten, dass ihre Wahrnehmung “stimmt(e)”. 


Für jeden ist etwas anderes potenziell “traumatisch”  

“Trauma” ist eine Grundtatsache des Lebens, jedoch haben selbstverständlich nicht alle Menschen die gleichen Voraussetzungen, Ressourcen, wunden Punkte und Schmerzkörper. Jedes Individuum erlebt Stress und Herausforderungen sowie daraus resultierende Überforderungen daher anders – auf seinem eigenen “Hintergrund”. Dieser setzt sich u.a. zusammen aus seinen epigenetischen Grundstrukturen, seinen pränatalen und perinatalen sowie den späteren biographischen Erfahrungen und den daraus resultierenden Bindungsqualitäten und Bewältigungsstrategien oder eben bei deren Ermangelung mit den entsprechenden Defiziten. Zu den transgenerativen/ epigenetischen Traumatisierungen, mit Hinblick auf die zwei Weltkriege, sowie zum Thema des Geburtstraumas wurden in diesem Blog bereits Artikel verfasst. Daher möchte ich nunmehr den Schwerpunkt auf Traumatisierungen im Laufe des eigenen Lebensweges legen. Doch auch dabei ist zu betonen, dass die unterschiedlichen Aspekte und Mechanismen die bei “seelischen Traumata” anzutreffen sind (wie bspw. Unruhe, Erstarrung, Abspaltung o. Dissoziation), nicht immer unbedingt lebensbedrohlichen Situationen entspringen müssen. Es können auch beschämende oder demütigende Situationen sowie als sehr belastend erlebte Neuigkeiten sein (bspw. der Tod eines Menschen o. Tieres sowie eine Firmeninsolvenz). 

Trauma-Ursachen

Für beide nachfolgenden Trauma-Kategorien gilt grundsätzlich: je eher oder je jünger, desto schlimmer. Viel zu wenig beachtet wird, bis heute, bspw. die Qualität der Kommunikation bei medizinisch-invasiven Eingriffen seitens der Fachleute, die i.d.R. selbst in dem Bereich kaum geschult worden sind und obendrein häufig noch zu Negativ-Suggestionen und Droh-Imaginationen neigen. Aber selbst bei guten Bedingungen werden operative Eingriffe vom Organismus als “Angriff” gewertet. Eine Operation kommt in der Natur einfach nicht vor. Der Einsatz von Betäubungsmitteln kann das Trauma-Potenzial teilweise noch erhöhen, da eine “Flucht” somit unmöglich ist. Ferner ist besonders der Bereich der Bindungstraumatisierung, beginnend nach der Geburt und sich fortsetzend in der gesamten weiteren Kindheit, Jugend und auch dem Erwachsenensein, im allgemeinen Bewusstsein deutlich unterrepräsentiert.     

Offensichtliche (klassische) Trauma-Ursachen: 

  • Krieg/ Terror/ Folter/ Geiselnahmen 
  • Sexueller Missbrauch/ Vergewaltigung
  • Körperliche Misshandlungen/ Gewalterfahrungen
  • Schwere Verletzungen/ Krankheiten
  • Vernachlässigung/ Verrat/ Verlassenwerden (in der Kindheit)
  • Schwere Naturkatastrophen/ Unfälle/ Unglücke

Zusätzliche potenzielle Trauma-Ursachen: 

  • Geburtsstress/ Geburtskomplikation/ Frühgeburt
  • Plötzliche, laute Geräusche (auch Sylvester) 
  • Leichtere Unfall-Ereignisse/ Stürze/ Brüche 
  • Ruhigstellung/ Fixierung (bei Krankheit/ Sadismus/ “Strafe”)
  • Epigenetische Prägung/ Transgeneratives Trauma (Krieg/ Vertreibung/ Hunger/ Todesangst)
  • Alleingelassenwerden/ Ignoriertwerden (Brutkasten/ Smartphone-Sucht/ Eingesperrtwerden/ emotionale Kälte)
  • Krankheiten/ Ersticken (Fieber/ Erbrechen/ Vergiftung/ Behinderung/ Impotenz/ Einschränkung)
  • (Unsensibel durchgeführte) Medizinische Routine-Eingriffe (volles Schmerzempfinden/ Beschämung)
  • Kleinere Naturereignisse/ Veränderungen (Temperatur/ leichte Brände) 
  • Mitansehen/ -erleben von Gewalt (mitunter auch TV/ Kino)
  • Geschichten von/ Zusammensein mit traumatisierten Personen (auch Therapeuten/ Pfleger/ Ärzte)
  • Plötzliche/ unerwartete Lebensveränderungen (Todesfälle/ Trennung/ Jobverlust/ Wirtschaftlicher Tod/ Status)
  • Akute Ohnmachtserlebnisse (Cyber-Mobbing/ Bossing/ Gaslighting/ Ghosting/ Beziehungsabbrüche)
  • Spirituelle Erfahrungen (Psychedelics/ Retreats/ Sport/ Peak-Experiences/ Nadir-States/ NTE/ AKE)
  • Lebensveränderungen (Religionswechsel/ Sekten-Ausstieg/ Weltbild/ Wohnortswechsel/ Parteiwechsel/ Degradierung) 

Trauma-Symptome/ Trauma-Folgen

Die möglichen Symptome sind sehr vielschichtig, teilweise treten sie gleichzeitig und teilweise zeitversetzt (mitunter auch erst Jahre nach dem eigentlichen Trauma-Ereignis) auf. Sie können permanent vorhanden sein oder “instabil” und nur bei bestimmten Überlastungen/ Stressoren hervorbrechen. Eine Unterversorgung mit Mikronährstoffen sowie mit für die Hirn- & Nervenfunktion notwendigen maritimen Fettsäuren behindert zusätzlich die Verarbeitung von Trauma-Folgen – daher bieten wir unseren Kunden einen Index-Test an, der von daheim selbstständig durchgeführt werden kann. 

Die folgende Beispielliste dient der Orientierung, nicht der Diagnostik:

  • Wenig Stresskompetenz (“Toleranzfenster”)
  • Generelle Panikattacken/ Ängste/ Phobien
  • Zwanghafte & kontrollierende Verhaltensweisen/ Wiederholungen
  • Dissoziation/ Persönlichkeitsspaltung, Wahrnehmungseinengung & Verleugnung 
  • Übererregung, Anspannung & Energie-Stau
  • Scham, Scheu, Hilflosigkeit & mangelndes Selbstwertgefühl
  • Verminderte emotionale Reaktion, Taubheit & Erstarrung
  • Stark ausgeprägte Anhänglichkeit oder Verlustangst
  • Chronische Müdigkeit (CFS & Burn-Out?!) & sehr niedriges Energieniveau
  • Hormonelle Probleme (bspw. Schilddrüse) & reduziertes Immunsystem 
  • Psychosomatik/ chronischer Schmerz (Migräne/ Rückenschmerzen/ Nackenprobleme/ Fibromyalgie)
  • Sonst. körperliche Probleme: Asthma, Hautbeschwerden, Reizdarm, prämenstruelles Syndrom
  • Bindungsstörungen/ wiederkehrende Beziehungsprobleme/ Verpflichtungen problematisch
  • Sucht (Essen/ Alkohol/ Tabak/ Cannabis/ Spiel/ Sexualität etc.) 
  • Explizites Suchen gefährlicher Situationen (auch Konsum von Gewaltfilmen)
  • Ungesunde (sexuelle) Liebschaften/ Beziehungen (“Abhängigkeit”)
  • Übermäßige Wachsamkeit & Vermeidungsverhalten
  • Bedrängende Bilder/ Rückblenden (“Flashbacks”)
  • Gedächtnisverlust/ Vergesslichkeit/ Konzentrationsprobleme
  • Extreme Licht-/ Lärmempfindlichkeit
  • Überaktivität als Kompensation (ADHS?!)
  • Emotionale Überreaktion/ Schreckhaftigkeit
  • Inkontinenz/ Bettnässen 
  • Unbegründete Angst vor dem Tod/ einem verkürzten Leben 
  • Alpträume/ nächtliche Angstattacken & Schlafstörungen
  • Abrupte Stimmungswechsel (Zorn/ Wut/ Verzweiflung/ Weinen)
  • Selbstverletzung (an Leib und Seele)
  • Verlust eigener Spiritualität/ Glaubenssysteme/ Getrenntheit
  • Verringerte Fähigkeit Zukunftspläne zu schmieden

Mit den Jahren werden die Trauma-Folgeprobleme traumatischer Erfahrungen i.d.R. komplexer, mit paralleler Abnahme der Bewusstheit in Bezug auf die Verbindung zum ursprünglich traumatischen (Ur-)Ereignis. Wobei parallel das ursprüngliche Ereignis oftmals während des Alltaglebens “real” (bspw. als erneuter Unfall) oder nur auf symbolische Weise sowie rein körperlich-psychosomatisch o. rein imaginativ (bspw. im Tagtraum/ Schlaf) unbewusst wiederholt/ re-inszeniert wird.


Hingabe & Verwandlung

Iason HeldenreiseDadurch, dass wir anerkennen was “ist” und uns so annehmen wie es ist, bzw. wie wir geworden sind, beginnt bereits ein erster wesentlicher Schritt der Transformation. Dabei müssen wir im Grunde Neuland betreten und es mutig wagen, uns dem darin verborgenen, unbekannten Potenzial zu stellen – ihm leibhaftig (im wahrsten Sinne des Wortes) zu begegnen. Auf diesem Wege dürfen wir lernen, dass wir mehr sind, als unsere Angst oder unsere bisherige beste Strategie mit dem Geschehenen umzugehen. Sie spüren es bereits mitunter: Ich spreche hier über eine Art von “Wiedergeburt”. Eine Neugeburt, des eigenen, lebendigen, schöpferischen und kreativen Potenzials, von welchem viele alte Mythen und Symbole zu berichten wissen. Wenn sich dieser Prozess in Gänze ereignen darf, dann können wir wahrlich von so etwas wie Wachstum sprechen, welches letztlich kein statischer Zustand, sondern – genau wie unsere körpereigene Einfühlung – ein kontinuierlicher Fluss ist (Vgl., “Heraklit”). Wer sich diesen permanenten Fluss inhärent aneignet, bewegt sich unweigerlich aus dem statischen Feld des Traumas heraus. Auf diesem Wege wünsche ich allen Leserinnen und Lesern schon jetzt einmal viel Mut, Vertrauen und letztlich Erfolg. C.G. Jung pflegte zu sagen, dass ein ordentliches Leid einem 10 Jahre Meditation ersparen könne. Darin ist enthalten, dass Leid und Krise einen tieferen Wert besitzen. Eine Neuordnung ist grundsätzlich ohne “Krise” nicht möglich. Krisen, Engpässe, Schicksalsfügungen und Lebensumbrüche sind demnach zwar unvermeidlich, sie beinhalten jedoch gleichzeitig die Chance zu Wachstum und Reifung. Der Ausdruck der Trauer, die Anerkennung und Würdigung eines erfahrenen Unrechts, eine individuelle Bewältigungsstrategie sowie ein grundsätzliches Vagus-Training können beim Entdecken dieser Chance behilflich sein. 

Hinweis

Dieser Artikel dient der reinen Information zum Thema “Trauma”. Für eine kassenfinanzierte “Traumatherapie” wenden Sie sich bitte an Ihren Arzt oder psychologischen Psychotherapeuten. Am freiraum-Institut bieten wir ausschließlich Persönlichkeitsentwicklung und Coaching zur Potenzialentfaltung an.  

Jörg Fuhrmann

Jörg Fuhrmann

Leiter freiraum-Institut

Körper-Gestalttherapeut (ECP)/ Transpersonaler Therapeut (EUROTAS)

Quellen: 

Berceli, David, 2008, Shake it off naturally – Reduce Stress, Anxiety and Tensio with TRE

Levine, Peter, A., 2007, Vom Trauma befreien, Kösel

Ogden, Pat/ Minton, Kekuni/ Pain, 2010, Clare, Trauma und Körper, Junfermann

Porges, Stephen, W., 2010, Die Polyvagal-Theorie, Junfermann

Scaer, Robert, 2012 Acht Schlüssel zur Gehirn-Körper Balance – Neurophysiologische Grundlagen einer somatisch orientierten Traumatherapie, G. P. Probst

Van der Kolk, Bessel, 2015, Verkörperter Schrecken – Traumaspuren in Gehirn, Geist und Körper, G. P. Probst

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